Marrakech – Die Perle des Südens
Die milde Februarsonne bricht durch das Grün der Palmen und Kakteen, spiegelt sich in kleinen Teichen, schimmert in der Pracht der verschiedenfarbigen
Bougainvilleen und lässt
das Blaue Haus leuchten. In der vergangenen Nacht hat es stark geregnet. Ein leichter Dunst liegt in der Luft und hüllt den Traum aus Farben in ein unwirkliches, magisches Licht. Kobaltblau, magentarot, ockergelb, cremeweiß eingebettet in eine unendlich bunt blühende Vielfalt tropischer und subtropischer Pflanzen. Der Jardin Majorelle ist eine Oase der Stille und ein Kunstwerk, das der französische Maler Jacques Majorelle 1923 gestalten ließ und das der Modeschöpfer Yves Saint Laurent 1980 zusammen mit seinem Lebensgefährten Pierre Bergé erwarb. Der Lärm der Stadt scheint an den steinernen Mauern, die diesen berühmten botanischen Gartens umgeben, abzuprallen.
Es ist 10 Uhr früh und wir sind die einzigen Besucher zu dieser
Tageszeit. Ein idealer Ort um uns auf unsere Reise einzustimmen. Eine Gruppe von 14 Frauen, alle mit
einer Affinität zu Büchern: Buchhändlerinnen, Lehrerinnen, eine Bibliothekarin und Literaturbegeistert
aus anderen Berufszweigen, aufgebrochen zur 11-tägigen Reise „Karawane der Bücher und Kamele“. Ein Artikel
über die marokkanische Buchhändlerkollegin Jamila Hassoune hat mich zur Organisation dieser Reise inspiriert.
Für den Nachmittag sind wir mit Jamila verabredet und morgen werden wir weiter nach Süden fahren, um mit
Kamelen durch die Wüste zu ziehen. Mit im Gepäck haben wir Werke marokkanischer
Schriftstellerinnen.
„Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt“, weiss ein arabisches Sprichwort.
In Marrakech gibt es eine Buchhändlermoschee, die Koutoubia, erbaut im 12. Jahrhundert, die einst neben dem Viertel der Buchhändler lag, das ihr den Namen gab. Eine
lange
Mauer aus rötlichen Lehmziegeln umschließt die Stadt; auf ihren hohen Zinnen nisten Storchenpaare. Sheherazade aus dem fernen Bagdad scheint hier noch immer um ihr Leben zu erzählen.
Die Buchhändlerin von Marrakech
Jamila Hassounes kleine Buchhandlung, die „Librairie Hassoune“, liegt im Uni-Viertel, einer Gegend, die im Gegensatz zum Stadtzentrum eine nüchterne moderne
Betonbau-Atmosphäre ausstrahlt. Jamila erwartet uns bereits als wir am späten Nachmittag bei ihr eintreffen. Eine schlanke Frau, Mitte 40, mit kurz geschnittenen Haaren, begleitet mit Hosen und T-Shirt. Jamila lebt für ihre Arbeit. Ihre freundliche, offene Art nimmt uns gleich für sie ein. Der Laden ist bereits geschlossen. Sie zeigt uns den Verkaufsraum im Parterre, nicht größer als etwa 20 Meter im Quadrat. Eine schmale Treppe führt hinauf ins Obergeschoß. Hier sind das Buchlager und ein kleines Büro untergebracht. Auf Bücherkisten und auf dem Boden sitzend, lassen wir uns
erzählen, wie alles begann.
„Meine Familie ist sehr traditionell“, berichtet sie. „Ich bin sehr behütet aufgewachsen und war nach der Schule immer zuhause.“ Sie sei ein eher scheues Kind gewesen, mit wenigen Freundinnen, aber mit einer großen Liebe zu Büchern. „Ich war schon immer ein neugieriger Mensch!“.
Ihr Leben änderte sich 1994 schlagartig als ihr Vater starb und sie seine Buchhandlung übernahm. Mehr und mehr begann sie sich nun für die aktuellen sozialen Themen zu interessieren. Vom Analphabetentum und der Unwissenheit der Frauen in den
ländlichen Regionen fühlte sie sich ebenso tief betroffen, wie von der beruflichen Perspektivlosigkeit der jungen Leute. Jamila begann nach Wegen der Hilfe und Veränderung zu suchen. Bildung erschien ihr als Grundlage dafür unabdingbar. Dafür konnte sie als Buchhändlerin etwas tun. Sie begriff schnell, dass sie zu den potentiellen Lesern der Zukunft gehen musste, um zukünftige Kunden zu gewinnen.
Im Frühjahr 1995 bepackte sie ihr Auto und fuhr in die kleinen Dörfer des Hohen Atlas, wo es keine Elektrizität und kein fließendes Wasser gab, um dort für Literatur zu werben und Bücher zu
verteilen. Die Resonanz war überwältigend.
Zurück in Marrakech, suchte sie nach Gleichgesinnten und Mitstreitern, um weitere Fahrten organisieren zu können. Sie fand
Universitätsprofessoren, Schriftsteller, Künstler und andere Intellektuelle, die fortan an ihrer Seite
waren.
Von 1996 an besuchte sie die abgelegenen Schulen, verlieh Bücher, die bei den Schülern gefragt waren; vor allem Bücher über Philosophie, fremdsprachliche Gedichtbände, Bücher über Menschenrechte und ausländische Medien. Besondere Unterstützung erfuhr sie von Fatima Mernissi, Universitätsprofessorin, bekannte Frauenrechtlerin und Autorin. Mit ihr begann sie bereits 1999 die „Caravane Civique“ (Bürger-Karawane).
Es sei Jamilas Traum vom „fliegenden Teppich“ gewesen, Bücher in die entlegenen Gebiete des Hohen Atlas zu transportieren, schreibt Mernissi. 2006 entwickelte sich aus
den Bücherfahrten und den verschiedenen kulturellen Projekten die „Caravane du Livre“, die Karawane der Bücher. Sie hat Jamila Hassoune internationale Bekanntheit und Anerkennung eingebracht. Jedes Jahr im April zieht die Karawane unter Jamilas Leitung
für vier Tage in ein anderes Dorf; mit Büchern, Workshops und anderen kulturellen Projekten im Gepäck. Zur Teilnahme an den Bücherkarawanen, lädt sie auch regelmäßig alle Interessierten
aus dem In- und Ausland ein. Sie sieht sich inzwischen als kulturelle Netzwerkerin zwischen Autoren, Intellektuellen, sozial engagierten Menschen und Kulturschaffenden, ganz speziell aber als Organisatorin für Frauenprojekte.
Jamilas Engagement und ihr Ideenreichtum wirken ansteckend, Hilfe ist ihr jederzeit willkommen. 2010
hat sie eine Stiftung gegründet, deren Vorsitzende sie ist: die „Ain Agadem Foundation“.mit dem Ziel der Förderung von Bildung, Kultur, Geschichte und Umwelt.
Als wir uns nach drei Stunden von Jamila verabschieden, sind wir beeindruckt von dem, was sie in Bewegung gesetzt hat.
Die Karawane zieht weiter
Am nächsten Morgen bricht unsere Gruppe zur zweiten Etappe unserer Reise auf.
Gegen 9.30 Uhr fahren wir in unserem Kleinbus in den Hohen Atlas hinein, über enge, gewundene Straßen, gesäumt von steilen felsigen Abhängen. Von den schneebedeckten Gipfeln stürzt das Schmelzwasser des beginnenden Frühlings ins Tal. An den schroffen Hängen der Berge kleben immer wieder Ansammlungen ockerfarbener
Lehmhäuser. Das sind die Orte, in die Jamila fährt. Karge, ärmliche und archaisch anmutende Dorfgemeinschaften, wie abgeschnitten von der modernen Welt. Nur hin und wieder zeigen vereinzelte weiße TV-Satellitenschüsseln, dass auch hier das
21. Jahrhundert bereits Einzug hält.
Über den 2.260 m hohen Pass Tizni-n-Tichka, über Agdz und Ouarzazate geht es ins Draa-Tal nach Zagora. Sechs
Stunden dauert die Fahrzeit zwischen Marrakech und
Zagora bei gutem Wetter! Wenn es viel geregnet hat, wie in diesem Frühjahr, sind die Straßen in den Bergen rutschig und es können leicht acht bis neun Stunden daraus werden.
Am späten Nachmittag erreichen wir
schließlich Zagora, ein Garnisonstädtchen am Rande der Wüste. Marianne, eine Buchhändlerkollegin aus der
Schweiz, wartet schon auf uns. Zusammen mit ihrem berberstämmigen Ehemann Hamid und dessen Familie betreibt sie im Winterhalbjahr, wenn die Saison für Wüstenreisen ist, dort die Agentur „Caravane Chaima“.
In Zagora gönnen wir uns eine letzte Nacht den Luxus eines Hotels und brechen am nächsten Morgen zu unserem Abenteuer in der Wüste auf. Marianne begleitet uns. Mit Geländewagen werden wir bis zum Karawanentreffpunkt gebracht. Die Chameliers, die Kamelführer, warten bereits. Die korrekte Bezeichnung für das Kamel der Sahara ist „Dromedar“, weil es nur einen Höcker hat. Seine Artgenossen, mit dem Namen „Kamel“ haben davon zwei und leben in den Wüsten und Steppen Asiens.
Das Aufladen des Gepäcks geht schneller als gedacht. Jeder Handgriff sitzt. Im Nu sind die großen geflochtenen Korbtaschen mit unseren Rucksäcken und Reisetaschen
gefüllt, dazugepackt werden die Küchengeräte, Essensvorräte und ein großes Nomadenzelt.
Vor uns erhebt sich in der Ferne der Gebirgszug des Djebel Bani. Ein dunkles Felsmassiv aus spitzzackigen Höhen und tiefen Einschnitten mit Geröll und großen Steinen. Bis zum Mittag haben wir die Berge erreicht. Nach einer zweistündigen Mittagsrast, in der uns unsere Begleiter süßen Pfefferminztee, eine bunte Salatplatte und Brot servieren haben, steigen wir zu Fuß auf, gefolgt von unseren Begleitern mit den Dromedaren. Die Luft ist klar und angenehm. Ein ideales Klima zum Wandern.
Auf der anderen Seite der Berge erwartet uns eine Mondlandschaft, die Hammada. Hammadas sind neben den Sandwüsten die häufigste Wüstenform in der Sahara. Felsen und Steine
soweit das Auge reicht.
Am Horizont stehen einzelne Palmen und eine ferne Dünenlandschaft lässt sich
erahnen: die Erg Chegaga, eine der Sandwüsten Südmarokkos. Ein Meer aus gelbbraunen Sanddünen.
Marokkanische Frauenliteratur
Abends, bevor uns das mehrgängige Abendessen serviert wird, holen wir unsere Bücher hervor und lesen vor. Unser besonderes Interesse gilt der Literatur, die von Frauen
geschriebenen wurde. Diese beschäftigt sich zwangsläufig mit einem weiblichen Blick auf bestimmte Themen. In ihr geht es um die Situation von Frauen in einer Kultur, die vielen auch heute noch nur einen begrenzten Rahmen zuweist. Neben Fatima Mernissis „Der Harem in uns“ und „Der politische Harem“, die Standart der politisch engagierten marokkanischarabischen Frauenliteratur sind, haben es uns zwei weitere
Autorinnen besonders angetan.
Da ist zum einen Leila Abouzeid (geb. 1950) mit ihrem Roman „Eine Verstoßene geht ihren Weg“, der im Schicksal seiner Protagonistin die Auswirkungen der politischen
Entwicklung mit den traditionellen Nachteilen für Frauen verbindet.
Und zum anderen Rachida Lamrabet, die - 1970 in Marokko geboren, einer anderen Generation angehört. Sie lebt heute in Belgien. In ihrem Roman „Frauenland“ (ein Begriff, mit dem die marokkanischen Männer Westeuropa bezeichnen) geht es um das Leben einer selbständigen, beruflich erfolgreichen jungen Marokkanerin in Europa.
Neben unserer Lektüre erzählt uns Marianne von den einheimischen Frauen, von denen, die zu ihrer Familie gehören und von anderen, die sie als Nachbarinnen oder
Freundinnen kennt.
„Für die Frauen in den ländlichen Gegenden gelten die traditionellen Normen der Großfamilie wie eh und je“, berichtet sie.
Von den Reformen, mit denen König Mohamed VI,bald nach seinem Amtsantritt 1999 die Rechte der
Frauen stärkte, sei im Süden wenig zu spüren. Auch das Heiratsalter wurde per Gesetz auf 18 Jahre angehoben. Aus gutem
Grund!
„Aber, wer kümmert sich schon darum“, sagt Marianne. „Die Liebe, wie wir sie kennen, wird besungen und in Geschichten verewigt, aber in der Realität findet sie nicht statt.“
Auch heute noch würden 90% aller Frauen von der Familie verheiratet. Je früher, desto besser.
„Bestenfalls entwickelt sich die Liebe im Laufe einer Ehe.“, analysiert sie.
Die romantische, selbstbestimmte Liebe, die in den traditionellen Liedern und Gedichten so oft
beschworen wird, geht wohl deshalb auch in der Poesie selten gut aus. Dem Ungehorsam gegen Pflicht und Tradition folgt die Strafe auf dem Fuß. Die Liebenden verschmachten in der Wüste, wohin sie sich geflüchtet haben oder enden auf andere
tragische Weise.
„Solange Frauen nicht ausgebildet und finanziell
unabhängig sind, läuft nichts!“, sagt Marianne.
Mit diesem Resüme bestätigt sie, was auch Jamila Hassoune erkannt hat und wofür sie arbeitet und kämpft.
Sandsturm im Garten Allahs
Als wir am letzten Wüstentag aus unseren Schlafsäcken kriechen, wissen wir, dass es Zeit ist zu gehen. Ein pfeifender Wind ist aufgekommen. Umgeben von einem Schleier aus wirbelndem Sand stehen unsere
Dromedare wie dreibeinige Statuen im milchigen Licht des Morgens, unbeweglich und stumm, mit je einem hochgebundenen Vorderbein, das sie daran hindern soll sich
weit vom Lager zu entfernen.
Unsere Begleiter servieren uns ein letztes Frühstück im Schutz
des großen Nomadenzeltes. Dann treffen die Geländewagen ein, die uns
zurück nach Zagora bringen sollen. Unser Gepäck, bereits auf einem großen Haufen zusammengetragen, wird auf die Dachgepäckträger geladen und mit Seilen fest gezurrt. Eine drückende Schwüle
treibt uns den Schweiß aus den Poren. Unsere Augen sind sandverklebt. Aus dem Wind hat sich inzwischen ein brüllender Sturm entwickelt.
Gegen 9.30 Uhr verlassen wir unseren letzten Wüstenlagerplatz, der Sandsturm folgt uns. Die Autos kommen nur langsam voran. Die Fahrer haben Mühe die Piste zu
finden. Alle Spuren verwehen sofort. Schlingernd halten wir im aufgewehten
Sand auf Mhamid zu, dem nächsten bewohnten Ort am Rande der Wüste. Von dort aus führt
eine Teerstraße nach Norden, nach Zagora. In Zagora warten bereits eine Dusche und
ein großer Hotel-Swimmingpool auf Touristinnen wie uns. Unsere einheimischen Begleiter jedoch bleiben mit ihren Dromedaren im Brüllen des Sturms zurück. Ein eintägiger Fußmarsch trennt sie noch von Mhamid.
Im unserem Auto ist es stickig und drückend heiß. Ein Schwall aus Sand dringt immer wieder durch den schmalen Spalt des Fensters, das der Fahrer zur Linderung offen gelassen hat. Bald ist auch im Wageninnern alles mit einer feinen gelbbrauner Schicht bedeckt. Morgen oder übermorgen oder auch vielleicht erst in vier bis fünf Tagen, wenn der Sandsturm vorüber sein wird und die Sonne ihr klares, goldenes Licht erneut über die stille Wüstenlandschaft schickt, wird sich für kurze Zeit dem Betrachter eine Landschaft darbieten, die so vollkommen und unberührt scheint, wie am ersten Schöpfungstag. Ein arabisches Sprichwort sagt:
"Die Wüste ist der Garten Allahs, aus der er alles Überflüssige entfernt hat, damit er in Frieden darin wandeln kann“
© Text: Margit Seibel
© Fotos: Eva Maria Preiss / Margit Seibel
2010-2012
siehe auch blog-Beitrag:
Al Maqam - Arabische Kunst und Kultur
"Karawane der Bücher - Auf den Spuren von Jamila Hassoune"
Sandmeere Reisen - Reisebericht Tunesien